Am Montag, dem 18. März 2024 eröffnete Bundespräsidentin Viola Amherd und EU-Kommissionspräsidentin Urusla von der Leyen die neuen bilateralen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union. Die Gespräche finden drei Jahre nach dem gescheiterten Rahmenabkommen statt. Die beiden Parteien erhoffen sich eine Stabilisierung und Vertiefung der bilateralen Beziehungen. In diesem Artikel möchten wir in einem ersten Teil die schweizerische Integration im Nachkriegseuropa historisch verordnen und im zweiten Teil die Schwerpunkte der aktuellen Verhandlungen der Bilateralen III charakterisieren.
Die nachfolgende historische Einordnung bezieht sich im wesentlichen auf den Bericht «Die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union: Eine kurze Geschichte differenzieller und schrittweiser Integration» von Prof. Thomas Cottier und Rachel Liechti. Cottier ist Ordinarius am Institut für Europa- und Wirtschaftsvölkerrecht und Direktor des World Trade Institute.
Schweizerische Integration in die europäischen Institutionen der Nachkriegszeit – Michel Krüsi
Nach zwei aufeinanderfolgenden Weltkriegen war das europäische Bedürfnis gross, eine friedliche Koexistenz in Europa zu sichern. Im Gegensatz zu den anderen europäischen Staaten musste die Schweiz sich nicht auf einen Wiederaufbau der Wirtschaft konzentrieren. In den Jahren nach dem Krieg blühte die Schweizer Wirtschaft dank eines stabilen Frankens und minimalen Infrastrukturschäden auf. Die Industrie nutzte den Aufschwung, um vermehrt Waren und Dienstleistungen zu exportieren. Die kriegsversehrten Märkte von Westeuropa bildeten dabei die primären Destinationen. Auf dieser Grundlage trat die Schweiz 1948 der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (heute OECD) als Gründungsmitglied bei, um gemäss der aussenpolitischen Maxime von Bundesrat Max Petitpierre neben der Wahrung der Neutralität auch Solidarität mit dem kriegsversehrten Europa zu zeigen. Im Jahr 1949 wurde der Europarat gegründet, welcher die Grundlage für die Vereinigten Staaten von Europa bilden sollte. Diesem Bund begegnete die Schweiz mit Skepsis. Erst nach der Gründung der Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1951 und der Europäischen Atomgemeinschaft 1956 entschloss sich die Schweiz dem Europarat im Jahr 1963 beizutreten. Bereits drei Jahre zuvor war die Schweiz als Gründungsmitglied der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA beigetreten. Zu den Gründungsmitgliedern zählten Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, die Schweiz und das Vereinigte Königreich. Die EFTA wurde am 4. Januar 1960 in Stockholm gegründet und trat am 3.Mai 1960 in Kraft. Das Ziel der internationalen Organisation war die Förderung von Wachstum und Wohlstand ihrer Mitgliedstaaten und die Vertiefung des Handels zwischen westeuropäischen Staaten. Zudem sollte sie ein Gegengewicht zu den Europäischen Gemeinschaften bilden.
Das Freihandelsabkommen von 1972 und die Politik der Europakompatibilität
Am 3. Dezember 1972 wurde das Freihandelsabkommen mit 72,5% Ja-Stimmen angenommen. Es förderte die Beziehung zwischen der Schweiz und der Europäischen Gemeinschaft. Durch einen schrankenlosen Handel wollten beide Parteien zum Aufbau Europas beitragen. Das Abkommen verbietet den Vertragsparteien Zölle, mengenmässige Beschränkungen sowie Massnahmen gleicher Wirkung für die vom Abkommen abgedeckten (Industrie-)Produkte. Das Freihandelsabkommen eröffnete neue Handlungsspielräume ohne das innere Gleichgewicht der schweizerischen Innenpolitik und Aussenpolitik zu gefährden. Die Schweiz entwickelte sich in den Jahren nach dem Freihandelsabkommen hinter den USA zum zweitgrössten Handelspartner der Europäischen Gemeinschaft.
Die Schweizer Stimmbevölkerung lehnt 1992 die EWR-Mitgliedschaft ab
Am 18. Mai 1992 legte der Bundesrat in seinem Bericht den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Gemeinschaft vor. Im Bericht – wurde nach Prüfung der Alternativen – der Beitritt als eindeutiges Ziel der Integrationspolitik deklariert. Dabei wurde der Beitritt in die EWR als eine Etappe auf dem Weg dorthin betrachtet. Am 26. Mai unterzeichnete der Bundesrat ein Gesuch um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Gemeinschaft. Am 6. Dezember 1992 wurde das Vertragswerk von 50,3% der Stimmbevölkerung und 14 4/2 der Stände abgelehnt. Da die Mehrheit der Bevölkerung eine Mitgliedschaft im EWR ablehnte, wurden in der Folge EWR-Gegner gewählt. Die nationalkonservative SVP stieg im Hintergrund der EWR-Abstimmung zur grössten Partei der Schweiz auf. Sie bestimmten die europapolitische Agenda für die nächste Dekade und führte zu dem bilateralen Weg.
Bilateral I und Bilateral II
Ende 1993 erklärte sich die EU in sieben Bereichen verhandlungsbereit. Bei den Bereichen handelte es sich um folgende: Forschung, öffentliches Beschaffungswesen, technische Handelshemmnisse, Landwirtschaft, Luftverkehr, Landverkehr und Personenverkehr. Die EU machte aber zur Bedingung, dass die Abkommen parallel verhandelt sowie gemeinsam unterzeichnet und in Kraft gesetzt werden müssten. Die Abkommen wurden daher rechtlich mit einer sogenannten «Guillotine-Klausel» verknüpft: Durch die Kündigung eines Abkommens würde das gesamte Vertragspaket hinfällig werden. Am 21. Juni 1999 unterzeichneten Bern und Brüssel die sieben bilateralen Abkommen. Am 21. Mai 2000 wurden das Bilateralen I. von dem Volk mit 67,2% Ja-Stimmen gutgeheissen und traten am 1. Juni 2002 in Kraft.
Die Bilateralen II bildeten die Fortsetzung der Bilateralen I und sollte noch bestehende Unklarheiten klären. In den Schlussakten des Bilateralen I hatte die Schweiz bereits einseitig erklärt, die Zusammenarbeit im Bereich Asylwesen und Migrationspolitik zu intensivieren. Die EU erhoffte sich aus den Verhandlungen die Zusammenarbeit in zwei Bereichen. Einerseits wollte die EU, dass die Schweiz bei einem europaweiten System zur Sicherstellung der Besteuerung von Zinserträgen mitwirkt. Zum anderen strebte die Kommission eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Betrugsbekämpfung im Bereich der indirekten Steuern an. Nach einigen Treffen verabschiedete der Rat am 17. Juni 2002 die letzten Verhandlungsmandate und gab grünes Licht für die Aufnahme der Verhandlungen. Die Hautpanliegen umfassten:
1. Die Teilnahme an der Schengener und Dubliner Zusammenarbeit zur Stärkung der inneren Sicherheit und Senkung der Kosten im Asylwesen
2.Eine Revision im Freihandelsabkommen über landwirtschaftliche Verarbeitungserzeugnisse
3.Beteiligung der Schweiz an den Gemeinschaftsprogrammen in den Bereichen Bildung, Jugend, Medien, Statistik und Umwelt
4.Abkommen über Ruhegehälter von ehemaligen Beamten der EU-Institutionen
Bei der Abstimmung am 5. Juni 2005 wurde die Bilaterale II vom Stimmvolk mit 54,6% gutgeheissen und angenommen. Das Abkommen wurde am 20. März 2006 von der Schweiz ratifiziert.
Bilaterale III – Cédric Hengy
Trotz gescheitertem Rahmenabkommen sind sowohl die Schweiz als auch die EU weiterhin an einer guten Beziehung zueinander interessiert. Aus diesem Grund wurden nach dem Scheitern des institutionellen Rahmenabkommens (InstA) im Mai 2021, Verhandlungen zu einer potenziellen Neuauflage der bilateralen Verträge mit einem neuen Paket gestartet, den sogenannten Bilateralen III.
Das Paket Bilaterale III ist keine reine Neuauflage des Rahmenabkommens. Es gibt erhebliche Unterschiede im Vergleich zum damaligen Abkommen. Das Verhandlungspaket der Bilateralen III umfasst unter anderem die Aktualisierung der fünf bestehenden Binnenmarktabkommen Personenfreizügigkeit (FZA), Abbau technischer Handelshemmnisse (MRA), Landverkehr, Luftverkehr sowie Landwirtschaft. Zudem sollen zwei neue Binnenmarktabkommen für Strom, Lebensmittelsicherheit und ein Kooperationsabkommen über Gesundheit abgeschlossen werden. In den Bereichen Bildung, Forschung, Jugend, Sport und Kultur sieht das Paket ebenfalls Kooperationen mit der EU vor. Darüber hinaus ist die Wiederaufnahme des Regulierungsdialogs im Finanzbereich sowie eine Verstetigung des Schweizer Kohäsionsbeitrags geplant.
Mit dem Paketansatz der Bilateralen III wollen Bern und Brüssel für sechs Abkommen (Personenfreizügigkeit, Landwirtschaft, technische Handelshemmnisse, Landverkehr, und Luftverkehr, geplantes neues Stromabkommen) neue Spielregeln einführen, die definieren sollen, wie ein Abkommen angewandt und weiterentwickelt wird. Diese drehen sich um die institutionellen Fragen, namentlich die dynamische Rechtsübernahme und Streitschlichtung und sollen neu mittels eines vertikalen sektorbezogenen Ansatzes in jedem Binnenmarktabkommen individuell gelöst werden. Das ist ein gewichtiger Unterschied zum institutionellen Rahmenabkommen, wo in einem horizontalen Ansatz über ein Rahmenvertrag für alle Binnenmarktabkommen diskutiert wurde und die institutionellen Fragen in einem übergeordneten Teil geregelt werden sollten.
Quelle: Economiesuisse 2023
Was ist in den drei neuen Abkommen geplant?
Binnenmarktabkommen Strom:
Heute sind Schweizer Stromverbraucher nicht in den Strombinnenmarkt der EU integriert. Hierzulande sind wir vor allem im Winter auf Stromimporte angewiesen. Mit dem geplanten Stromabkommen sollen einerseits die Versorgungssicherheit erhöht und Risiken in Form ungeplanter Stromflüsse reduziert werden. Zudem soll auch die Netzstabilität gestärkt werden, indem die Stromnetzbetreiberin Swissgrid gleichberechtigt in die Zusammenarbeit mit den europäischen Netzbetreibern eingebunden wird.
Binnenmarktabkommen Lebensmittelsicherheit:
In diesem Punkt strebt die Schweiz eine Ausweitung des Geltungsbereichs des bisherigen Abkommens über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf die gesamte Lebensmittelkette an. Zusammengefasst würde sich die Schweiz am Warn- und Kooperationsnetz der EU beteiligen, das nebst seinem Schnellwarnsystem für Lebens- und Futtermittel (RASSF) auch die Aufgabe hat, den Schutz gegen gefälschte oder unsichere Lebensmittel sicherzustellen und obendrein den Handel erleichtern soll. Die Agrarpolitik der Schweiz bliebe vom Abkommen jedoch unberührt.
Kooperationsabkommen Gesundheit:
Das Hauptziel dieses Abkommens ist es, eine Verstetigung und Formalisierung der Zusammenarbeit mit der EU im Gesundheitsbereich zu erreichen. Im Zentrum steht hierbei der Schutz gegen Gesundheitskrisen, beispielsweise Pandemien. Das Abkommen würde es der Schweiz ermöglichen, sich an Gremien und Netzwerken der EU im Bereich der Gesundheitssicherheit, wie zum Beispiel dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), zu beteiligen.
Was sind u.a. die grössten Knacknüsse bis zum fertigen Abkommen?
«Fremde Richter»?: Mit den Bilateralen III soll im Fall, dass es zwischen der EU-Kommission und dem Bundesrat über die Auslegung von Regeln, beispielsweise im Landverkehr oder der Personenfreizügigkeit, zu Differenzen kommt, ein paritätisches Schiedsgericht eingesetzt werden. Dieses aus drei Personen bestehende Gremium würde entscheiden, welches Recht, also Schweizer Recht, Vertragsrecht oder EU-Binnenmarktrecht, zur Anwendung kommt. Bei der Auslegung von Begriffen des EU-Rechts müsste das Schiedsgericht den Europäischen Gerichtshof (EuGH) einbeziehen, dessen Vorgaben für das Schiedsgericht verbindlich wären. Dieser Punkt ist insbesondere der SVP und EU-skeptischen Gruppierungen ein Dorn im Auge. Sie lehnen deshalb die institutionellen Regeln sowohl für die bereits bestehenden als auch für die neuen Marktzugangsabkommen ab.
Spesenregelung: Eine weitere Frage, über die aktuell bei den Verhandlungen gerungen wird ist, wie viel Spesen die rund 80’000 bis 100’000 Arbeitnehmer aus EU-Ländern erhalten sollen, die jedes Jahr für kürzere Arbeitseinsätze in die Schweiz entsandt werden. Die EU verlangt diesbezüglich, dass die Schweiz in dieser Frage die europäische Spesenregelung übernehmen soll. Hierzulande wollen dies sowohl der Bundesrat, die Sozialpartner als auch die Parteien verhindern, da besagte Regelung künftig Spesen gemäss dem Herkunftsland der jeweiligen Unternehmen vorsieht.
Zuwanderung: Das Freizügigkeitsabkommen (FZA) ist bereits Bestandteil der Bilateralen I. Im Rahmen des Paketansatzes werden nun zwei Aspekte der Personenfreizügigkeit separat verhandelt: der Lohnschutz und die Unionsbürgerrichtlinie (UBRL). Letztere hat die Schweiz bisher nicht übernommen. Im Zug der Weiterentwicklung des bilateralen Wegs möchte die EU das Freizügigkeitsabkommen um die UBRL ergänzen. Diese regelt das Recht von EU- Staatsangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. In der Schweiz kommt diesbezüglich vor allem von rechts Widerstand. Gegner befürchten, dass Ausweisungen krimineller EU-Bürger künftig nur noch schwer durchsetzbar wären und der einfachere Zugang zu Sozialhilfe zu einer gezielten Einwanderung in die Sozialwerke führen könnte.
Wer soll letztlich über die Bilateralen III entscheiden?
Der Bundesrat will die Verhandlungen mit der EU bis Ende Jahr zum Abschluss bringen. Darüber, wie realistisch dieses Ziel ist, kann gestritten werden, zumal die EU bereits im Juni ein neues Parlament wählt. Auf Schweizer Seite könnte man es also möglicherweise schon ab Herbst mit neuen Verhandlungspartnern zu tun haben.
Nach dem Abschluss der Verhandlungen entscheidet der Bundesrat über den Vertragsentwurf. Anschliessend überweist er ihn an das Parlament. Stimmen beide Kammern zu, gibt es darüber ein fakultatives Referendum. Falls dieses ergriffen wird, ist der Vertrag angenommen, wenn die Mehrheit der Stimmbürger dazu Ja sagt. Darüber, ob allenfalls gar ein obligatorisches Referendum abgehalten werden müsste, wozu es nebst dem Volks- auch das Ständemehr bräuchte, läuft aktuell eine hitzige Debatte. Die Verfassung sieht ein obligatorisches Referendum über Staatsverträge eigentlich nur für zwei Fälle vor: Für den Beitritt zu Organisationen für kollektive Sicherheit, beispielsweise der Uno oder Nato, und für den Beitritt zu supranationalen Gemeinschaften, also im Wesentlichen die EU. Beides ist bei den Bilateralen III nicht der Fall.
Quellen:
https://www.economiesuisse.ch/de/artikel/bilaterale-iii-um-was-geht-es-eigentlich
https://www.nzz.ch/meinung/braucht-es-fuer-ein-abkommen-mit-der-eu-auch-das-staendemehr-ld.1819455
Die Beziehungen der Schweiz zur Europäischen Union: Eine kurze Geschichte differenzieller und schrittweiser Integration
https://europa.unibas.ch/fileadmin/user_upload/europa/PDFs_Basel_Papers/BS81.pdf
Definitives Verhandlungsmandat (gemäss Bundesratsbeschluss vom 8. März 2024):
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-100342.html